LAG-Berlin Brandenburg: fristlose Kündigung wegen Krankenhausaufenthalt durch den Arbeitgeber
Rechtsanwalt A. Martin – Fachanwalt für Arbeitsrecht
Inhaltsverzeichnis
Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg vom 13.07.2023 – 10 Sa 625/23
Leitsatz der Entscheidung
-
Eine Arbeitnehmerin, die sich in stationärer Behandlung befindet, fehlt nicht unentschuldigt.
Stichworte
- fristlose Kündigung
- Krankenhausaufenthalt
- Klinikaufenthalt
- Fehlen auf Arbeit
- verhaltensbedingte Kündigung
- Kündigungsschutzklage
- Arbeitsunfähigkeit
Tenor der Entscheidung
- I. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Berlin vom 24. November 2022 – 27 Ca 10980/20 wird als unzulässig verworfen.
- II. Die Kosten des Berufungsverfahrens trägt die Beklagte.
- III. Der Gebührenwert für das Berufungsverfahren wird auf 7.500,00 EUR festgesetzt.
- IV. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand des Urteils
1 Die Parteien streiten in der Berufungsinstanz noch über die Wirksamkeit einer außeror- dentlichen Kündigung vom 11. August 2020 und die damit verbundene Entgeltfortzah- lung vom 18. Juli 2020 bis 28. August 2020 sowie Urlaubsentgelt für die Zeit vom 1. Juli 2020 bis 17. Juli 2020.
2 Die Klägerin ist 56 Jahre alt (geb. …. 1967) und stand seit dem 1. Juli 2019 in einem Ar- beitsverhältnis mit der Beklagten. Die monatliche Bruttovergütung betrug 3.000 EUR.
3 Jedenfalls in der Zeit vom 1. Juli 2020 bis Freitag, dem 17. Juli 2020 befand sich die Klä- gerin im Urlaub. Am Samstag, dem 18. Juli 2020 erkrankte sie und wurde stationär in ei- nem Krankenhaus aufgenommen. Der stationäre Aufenthalt dauerte insgesamt bis zum 18. September 2020.
4 Ob die Beklagte durch ein Telefonat einer Freundin der Klägerin mit der Geschäftsführe- rin der Beklagten und durch die Information eines Mitarbeiters der Beklagten durch die Tochter der Klägerin über den Krankenhausaufenthalt informiert war, ist zwischen den Parteien streitig.
5 Mit Schreiben vom 4. August 2020 wandte sich die Beklagte jedenfalls an die Klägerin und erkundigte sich nach ihrem Verbleib. Das Schreiben lautet konkret:
6 Sehr geehrte Frau A,
7 aus Ihrem Jahresurlaub sind Sie bisher nicht zurückgekehrt.
8 Eine Krankschreibung haben wir bisher auch nicht bekommen. Weder per Mail noch telefonisch sind Sie erreichbar.
9 In der Hoffnung, dass Sie oder einer Ihrer Angehörigen diesen Brief liest, bitten wir um dringende Rückmeldung.
10 Mit freundlichen Grüßen .B
11 Jedenfalls mit E-Mail vom 10. August 2020 mit dem Betreff „AU – Frau A“ informierte der Sozialdienst des Krankenhauses die Beklagte darüber, dass die Klägerin sich seit dem 18. Juli 2020 in stationärer Behandlung befinde. Konkret lautet die E-Mail:
12 Sehr geehrte Frau B,
13 Frau A befindet sich seit dem 18.07.2020 in unserer stationären Behandlung und ist somit voll arbeitsunfähig. Ein Entlassungsdatum steht zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht fest. Wir möchten Sie bitten, die gesetzlich festgesetzte Lohnfortzahlung über 6 Wochen bis zum Beginn der Krankengeldzahlung an unsere Patientin auszu- zahlen.
14 Eine weitere Aufenthaltsbescheinigung erhalten Sie auf dem Postweg.
15 Mit Schreiben vom 11. August 2020 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis mit dem
Betreff „Fristlose Kündigung“. Konkret lautet das Schreiben:
16 Sehr geehrte Frau A,
17 hiermit kündigen wir das zwischen uns bestehende Arbeitsverhältnis außerordent- lich aus wichtigem Grund fristlos. Wir sehen uns zu diesem Schritt durch gravierende Pflichtverletzungen Ihrerseits gezwungen.
18 Wir weisen darauf hin, dass Sie sich, um Nachteile zu vermeiden, unverzüglich bei der Arbeitsagentur melden müssen.
19 Vergütung für Juli und August 2020 hat die Beklagte an die Klägerin nicht mehr gezahlt.
20 Mit Urteil vom 24. November 2022 hat das Arbeitsgericht, soweit für die Berufung rele- vant, der Klage entsprochen.
21 Es könne dahinstehen, ob die Beklagte als Kündigungsgrund das Fehlen der Klägerin nach Urlaubsende heranziehen wolle. Denn die Klägerin habe angesichts des Kranken- hausaufenthaltes nicht unentschuldigt gefehlt. Es könne auch dahinstehen, ob die Beklagte über den Krankenhausaufenthalt nicht rechtzeitig informiert gewesen sei und dieses der Klägerin vorwerfbar sei. Denn auch in diesem Fall wäre die Kündigung unverhält- nismäßig. Die Verletzung der Anzeige- und Nachweispflicht nach dem EFZG könne nur dann eine fristlose Kündigung rechtfertigen, wenn „erschwerende Umstände des Einzelfalles“ hinzukämen. Derartige Umstände habe die Beklagte jedoch nicht vorgebracht. Auch sei ein beharrlicher Pflichtenverstoß der Klägerin nicht erkennbar.
Gründe, die die Verweigerung der Zahlung des Urlaubsentgeltes bis zum 17. Juli 2020 rechtfertigen würden, habe die Beklagte ebensowenig vorgebracht wie Gründe, die gesetzliche Entgeltfortzahlung nicht zu zahlen.
Gegen dieses Urteil hat die Beklagte rechtzeitig Berufung eingelegt und diese auch in- nerhalb der verlängerten Begründungsfrist begründet.
Die Beklagte behauptet, dass ein unentschuldigtes Fehlen der Klägerin „im Ergebnis un- streitig“ sei. Entgegen den Ausführungen des Arbeitsgerichts habe die Beklagte sehr wohl auch das Fernbleiben der Klägerin von der Arbeit nach Ende ihres bewilligten Ur- laubs beanstandet. Auch stelle das Arbeitsgericht hier zu schematisch darauf ab, dass die Klägerin im besagten Zeitraum in stationärer Behandlung gewesen sei. Es hätte hier vor allen Dingen thematisieren müssen. dass die Klägerin im maßgeblichen Zeitraum eben unentschuldigt gefehlt hätte. Auch sei die Kündigung entgegen den Ausführen des erstinstanzlichen Gerichts bei Würdigung aller Umstände des Einzelfalls von dem Hinter- grund gerechtfertigt, dass die Klägerin sowohl ihrer gesetzlichen Pflicht zur unverzüg- lichen Anzeige und der fristgemäßen Vorlage einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nicht nachgekommen sei. Inwieweit das Arbeitsgericht diese Umstände, nämlich das bei- de selbstständig bestehenden Pflichten nicht erfüllt worden seien, dahin stehen lassen wolle und in einem weiteren Schritt sogar mutmaße, ob der Klägerin insoweit ein ent- sprechendes Unterlassen, welches unstreitig vorgelegen habe, vorwerfbar wäre, könne nicht nachvollzogen werden und müsse beanstandet werden. Entgegen den nicht über- zeugenden Ausführungen des erstinstanzlichen Gerichts seien beharrliche Pflichtenver- stöße durch die Beklagte nicht nur vorgetragen worden, sondern hätten auch vorgele- gen. Das Gericht habe es hier nicht gewürdigt, dass die Klägerin sowohl gegen ihre ge- setzliche Pflicht zur unverzüglichen Anzeige als auch erschwerend zugleich gegen die Pflicht zur fristgemäßen Vorlage einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung verstoßen hät- te. Das Gericht habe ferner nicht gewürdigt, dass angesichts der von den Parteien vorge- tragenen Umstände davon hätte ausgegangen werden müssen, dass die Klägerin die Be- klagte nicht nur im Unklaren gelassen habe, sondern darüberhinausgehend auch gegen- über der Beklagten die Unwahrheit gesagt habe. Auch die Ausführungen des Gerichts zu dem Besuch des Mitarbeiters Herrn C am Wohnhaus der Klägerin könnten nicht überzeu- gen. Entgegen den Ausführungen des Gerichts habe das Verhalten der Tochter der Klä- gerin sehr wohl zugerechnet werden können. Das Gericht hätte auch thematisieren müs- sen, dass die Klägerin, wenn Sie zu diesem Zeitpunkt schon längere Zeit unentschuldigt fehle, dann Vorkehrungen hätte treffen müssen, dass eine Information gegebenenfalls auch über ihre Tochter am die Arbeitgeberseite erfolgen könnte. Dies sei unstreitig un- terblieben.
Die Beklagte und Berufungsklägerin beantragt,
das Urteil des Arbeitsgerichts Berlin vom 24. November 2022 – 27 Ca 10980/20 abzuändern und
1. die Klage insgesamt abzuweisen;
2. festzustellen, dass das zwischen den Parteien bestandene Arbeitsverhältnis aufgrund der mit Schreiben vom 11. August 2020 erklärten Kündigung außeror- dentlich fristlos mit sofortiger Wirkung aufgelöst worden ist.
Die Klägerin und Berufungsbeklagte beantragt,
die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.
Der Kläger verteidigt unter Vertiefung ihres erstinstanzlichen Vortrags die angefochtene Entscheidung.
Wegen des weiteren Vorbringens der Parteien in der Berufungsinstanz wird auf den In- halt der Berufungsbegründung der Beklagten vom 5. April 2023 sowie auf den Inhalt der Berufungsbeantwortung der Klägerin vom 10. Mai 2023 und das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 13. Juli 2023 Bezug genommen.
Entscheidungsgründe des Urteils
I.
33 Die nach § 64 Abs. 2 ArbGG statthafte Berufung der Beklagten ist form- und fristgerecht im Sinne der §§ 66 Abs. 1 ArbGG, 519, 520 Zivilprozessordnung (ZPO) eingelegt und begründet worden.
II.
34 Die Berufung ist bereits unzulässig, wäre aber im Falle ihrer Zulässigkeit auch nicht begründet.
1.
35 Nach § 520 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 ZPO muss die Berufungsbegründung die Umstände be- zeichnen, aus denen sich die Rechtsverletzung durch das angefochtene Urteil und deren Erheblichkeit für das Ergebnis der Entscheidung ergibt. Erforderlich ist eine hinreichende Darstellung der Gründe, aus denen sich die Rechtsfehlerhaftigkeit der angefochtenen Entscheidung ergeben soll. Die zivilprozessuale Regelung soll gewährleisten, dass der Rechtsstreit für die Berufungsinstanz durch eine Zusammenfassung und Beschränkung des Rechtsstoffs ausreichend vorbereitet wird. Deshalb hat der Berufungskläger die Be- urteilung des Streitfalls durch den Erstrichter zu überprüfen und darauf hinzuweisen, in welchen Punkten und mit welchem Grund er das angefochtene Urteil für unrichtig hält (ständige Rechtsprechung, z.B. BAG, Urteil vom 14. März 2017 – 9 AZR 633/15). Dabei dürfen zwar im Hinblick auf die aus dem Rechtsstaatsprinzip abzuleitende Rechtsschutzgarantie keine unzumutbaren Anforderungen an den Inhalt von Berufungsbegründungen gestellt werden. Die Berufungsbegründung muss aber auf den Streitfall zugeschnit- ten sein und im Einzelnen erkennen lassen, in welchen Punkten rechtlicher oder tatsäch- licher Art und aus welchen Gründen das angefochtene Urteil fehlerhaft sein soll (ständi- ge Rechtsprechung, z.B. BAG, Urteil vom 14. März 2017 – 9 AZR 633/15).
2.
36 Bereits in dem gerichtlichen Hinweisschreiben vom 7. Juli 2023 hat das Gericht den Parteien die entsprechende Rechtsansicht mitgeteilt, die die vollständig besetzte Kammer im heutigen Termin bestätigt hat.
2.1
37 Das Arbeitsgericht hatte die angefochtene Entscheidung zunächst darauf gestützt, dass die Klägerin nicht unentschuldigt gefehlt habe. Sie habe sich in der Zeit zwischen dem Ende des Urlaubs am 17. Juli 2020 und dem Tag des Ausspruchs der Kündigung am 11. August 2020 (und weiter bis zum 18. September 2020) unstreitig in einem Krankenhaus in stationärer Behandlung befunden.
38 Die Echtheit der von der Klägerin in Ablichtung vorgelegten Aufenthaltsbescheinigung vom 20. Juli 2020 habe die Beklagte nicht in Zweifel gezogen.
2.2
39 Das Arbeitsgericht hat die angefochtene Entscheidung sodann darauf gestützt, dass eine Verletzung der gesetzlichen Pflicht zur unverzüglichen Anzeige und/oder zur fristgemäßen Vorlage einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung die fristlose Kündigung ebenfalls nicht rechtfertige. Denn selbst bei angenommener Richtigkeit des Beklagtenvortrags, erst nach Ausspruch der Kündigung eine Anzeige der Arbeitsunfähigkeit erhalten zu ha- ben, sei die fristlose Kündigung unverhältnismäßig.
40 Angesichts des regelmäßig geringeren Gewichts dieser Pflichtverletzung bedürfe es der Feststellung erschwerender Umstände des Einzelfalles, die ausnahmsweise die Würdigung rechtfertigen würden, dem Arbeitgeber sei die Fortsetzung des Arbeitsverhältnis- ses bis zum Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist bzw. bis zum vereinbarten Beendigungszeitpunkt nicht zumutbar gewesen. Derartige Umstände seien von der Beklagten nicht vorgebracht worden.
41 Die Beklagte habe keine Anhaltspunkte aufgezeigt, die dafür sprechen würden, dass die Klägerin gegen die ihr obliegenden Nebenpflichten beharrlich verstoßen habe. Weder ha- be die Beklagte dargelegt, dass die Klägerin einschlägig abgemahnt worden wäre, noch sonstige Umstände aufgezeigt, aus denen sich ergäbe, dass die Klägerin mit Beharrlichkeit vorgegangen sei. Dies gelte auch dann, wenn die Tochter der Klägerin bei dem Be- such des Herrn C, diesem keinerlei Auskunft über den Krankenhausaufenthalt der Kläge- rin erteilt haben sollte. Denn es sei bereits nicht erkennbar, dass dieses Verhalten der Klägerin zugerechnet werden könne.
2.3
42 Mit diesen tragenden Erwägungen des Arbeitsgerichts setzt sich die Beklagte in der Berufungsbegründung nicht ausreichend auseinander.
2.3.1
43 Die Beklagte behauptet zwar, dass ein „unentschuldigtes Fehlen der Klägerin „im Ergebnis unstreitig“ sei, weshalb der Krankenhausaufenthalt der Klägerin aber keine hinreichende Entschuldigung für das Fehlen am Arbeitsplatz sein soll, ergibt sich aus dem Beklagtenvortrag nicht. Die Beklagte trägt zwar vor:
44 „Entgegen den Ausführungen des Arbeitsgerichts hat die Beklagte sehr wohl auch das Fernbleiben der Klägerin von der Arbeit nach Ende ihres bewilligten Urlaubs beanstandet“
45 Wann und wo die Beklagte dieses gegenüber der Klägerin vor Ausspruch der Kündigung beanstandet hat, ergibt sich aus der Berufungsbegründung nicht.
2.3.2
46 Weiter trägt die Beklagte vor:
47 „Auch stellt das Gericht hier zu schematisch darauf ab, dass die Klägerin im besagten Zeitraum in stationärer Behandlung gewesen sei. Es hätte hier vor allen Dingen thematisieren müssen. dass die Klägerin im maßgeblichen Zeitraum eben unentschuldigt gefehlt hatte.“
48 Damit handelt es sich lediglich um eine „formelhafte Wendung“. Denn das Arbeitsgericht hatte ja gerade hervorgehoben, dass aufgrund der stationären Behandlung der Klägerin kein unentschuldigtes Fehlen gegeben sei.
2.3.3
49 Sodann trägt die Beklagte in der Berufungsbegründung vor:
50 „Auch ist die Kündigung entgegen den Ausführen des erstinstanzlichen Gerichts bei Würdigung aller Umstände des Einzelfalls von dem Hintergrund gerechtfertigt, dass die Klägerin sowohl ihrer gesetzlichen Pflicht zur unverzüglichen Anzeige und der fristgemäßen Vorlage einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nicht nachgekommen ist. Inwieweit das Arbeitsgericht diese Umstände, nämlich das beide selbstständig bestehenden Pflichten nicht erfüllt wurden, dahin stehen lassen will und in einem weiteren Schritt sogar mutmaßt, ob der Klägerin insoweit ein entsprechendes Unterlassen, welches unstreitig vorgelegen hat, vorwerfbar wäre, kann nicht nachvollzogen werden und muss beanstandet werden.“
51 Das Arbeitsgericht hatte klar und eindeutig ausgeführt, dass es sich lediglich um Nebenpflichten aus dem Arbeitsverhältnis handele und die Beklagte keine Gründe vorgetragen habe, die ausnahmsweise auch bei deren Verletzung eine fristlose Kündigung rechtfertigen würden. Der danach allein denkbare besondere Grund einer beharrlichen Pflichtverletzung könne nicht angenommen werden.
52 Soweit die Beklagte in diesem Zusammenhang speziell die vom Gericht vorgenommene Bewertung zur Frage eines Verstoßes gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip beanstan- det, bleibt es wieder bei einer floskelhaften Auseinandersetzung mit der angefochtenen Entscheidung. Die Beklagte führt aus:
53 Entgegen den nicht überzeugenden Ausführungen des erstinstanzlichen Gerichts sind derartige Umstände durch die Beklagte nicht nur vorgetragen worden, sondern lagen auch vor. Das Gericht hat es hier nicht gewürdigt, dass die Klägerin sowohl gegen ihre gesetzliche Pflicht zur unverzüglichen Anzeige als auch erschwerend zugleich gegen die Pflicht zur fristgemäßen Vorlage einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung verstoßen hatte.
54 Damit wiederholt die Beklagte nur den Pflichtenverstoß, nennt aber auch weiterhin keine „besonderen Umstände“.
2.3.4
55 Die Beklagte behauptet weiter, dass das Arbeitsgericht „weitere Feststellungen zum Verhalten der Klägerin“ hätte vornehmen müssen. Welche Feststellungen das betreffen soll- te, ergibt sich aus der Berufungsbegründung aber nicht. Damit handelt es sich lediglich um eine „formelhafte Wendung“. Wenn damit die Ausführungen auf Seite 17 der Berufungsbegründung gemeint gewesen sein sollen, wo die Beklagte ausgeführt hat:
56 Das Gericht hat ferner nicht gewürdigt, dass angesichts der von den Parteien vorgetragenen Umstände davon ausgegangen werden musste, dass die Klägerin die Beklagte nicht nur im Unklaren gelassen hat, sondern darüberhinausgehend auch ge- genüber der Beklagten die Unwahrheit gesagt hatte.
57 ändert das nichts. Denn wann die Klägerin vor Ausspruch der Kündigung gegenüber wem durch was die Unwahrheit gesagt haben soll, ergibt sich aus der Berufungsbegründung nicht. Auch der weitere Vortrag der Beklagten in der Berufungsbegründung:
58 Auch die Ausführungen des Gerichts zu dem Besuch des Mitarbeiters Herrn C am Wohnhaus der Klägerin können nicht überzeugen. Entgegen den Ausführungen des Gerichts konnte das Verhalten der Tochter der Klägerin sehr wohl zugerechnet wer- den. Das Gericht hätte auch thematisieren müssen, dass die Klägerin, wenn Sie zu diesem Zeitpunkt schon längere Zeit unentschuldigt fehlt, dann Vorkehrungen hätte treffen müssen, dass eine Information gegebenenfalls auch über ihre Tochter am die Arbeitgeberseite erfolgen könnte. Dies ist unstreitig unterblieben.
59 ändert daran nichts. Selbst wenn das von der Beklagten behauptete Verhalten der Tochter der Klägerin, sie habe Herrn C nichts über den gesundheitlichen Zustand der Klägerin bzw. deren Verbleib erklärt, zutreffend sein sollte, ändert das nichts. Denn nach dem Vorbringen der Beklagten blieb sie im Unklaren, was mit der Klägerin ist. Das war vor dem Besuch des Herrn C so und danach auch. Insofern ändert sich der Kündigungsgrund nicht. Da die Beklagte das behauptete Verhalten der Tochter nicht zum Anlass für eine Abmahnung der Klägerin herangezogen hat, verbleibt es bei den zutreffenden Ausfüh- rungen des Arbeitsgerichts zu einem nicht beharrlichen Fehlverhalten.
2.3.5
60 Die Beklagte rügt in der Berufungsbegründung zwar eine umfassende Interessenabwägung durch das Arbeitsgericht, übersieht aber, dass das Arbeitsgericht schon keinen wichtigen Grund für die fristlose Kündigung erkennen konnte, so dass es auf eine Interessenabwägung gar nicht ankommt. Damit handelt es sich lediglich um eine „formelhafte Wendung“.
2.3.6
61 Indem die Beklagte in der Berufungsbegründung den erstinstanzlichen Vortrag wieder- holt, mangelt es an der vom Gesetz gebotenen erforderlichen Auseinandersetzung mit den Urteilsgründen der angefochtenen Entscheidung.
62 Zu den Zahlungsansprüchen der Klägerin hat die Beklagte mit keinem Wort erwähnt, weshalb das angefochtene Urteil fehlerhaft sein soll.
63 Die Berufung ist danach insgesamt unzulässig.
3.
64 Selbst wenn die Berufung zulässig gewesen wäre, wäre sie unbegründet. Auch insoweit hatte das Berufungsgericht schon in dem gerichtlichen Hinweisschreiben vom 7. Juli 2023 ausreichende Hinweise gegeben. Diese Hinweise macht sich die hier erkennende Kammer ebenfalls zu eigen.
3.1
65 Unstreitig war die Klägerin seit Beginn ihrer Arbeitspflicht nach dem Urlaub bis zum Ausspruch der Kündigung durch die Beklagte in stationärer Behandlung und damit arbeitsunfähig. Wenn die Beklagte ausführt:
66 „Ob und inwieweit die von der Klägerin angeblich vorgelegte Bescheinigung, deren Vorlage bis zuletzt auch bestritten worden war, die Echtheit für sich beanspruchen könne, ist in diesem Zusammenhang nicht maßgeblich.“
67 bestreitet sie gerade nicht die Echtheit der Aufenthaltsbescheinigung, egal. Ob sie ihr erst nach Ausspruch der Kündigung oder vorher zugegangen ist.
68 Ein arbeitsunfähiger Mensch fehlt nicht unentschuldigt, egal ob er diese Arbeitsunfähigkeit anzeigt oder nachweist.
3.2
69 Zum Zeitpunkt des Ausspruchs der Kündigung am 11. August 2020 war die Beklagte über die Arbeitsunfähigkeit der Klägerin informiert. Denn spätestens mit der E-Mail der Frau D vom Krankenhaus-Sozialdienst vom 10. August 2020 um 14:11 Uhr an die Beklagte hatte diese die dazu erforderlichen Informationen erhalten.
70 Da die Beklagte spätestens am 10. August 2020 über die bestehende und (fortdauernde) Arbeitsunfähigkeit der Klägerin informiert war, bestand zum Zeitpunkt des Ausspruchs der Kündigung jedenfalls kein Verstoß mehr gegen die Anzeigepflicht des EFZG.
71 Selbst wenn die Klägerin zuvor wochenlang ihre Anzeige- und/oder Nachweispflicht aus dem EFZG verletzt haben sollte, handelte es sich um eine auf steuerbarem Verhalten der Klägerin beruhende Vertragspflichtverletzung. Bei derartigen Pflichtverletzungen ist nach der ständigen Rechtsprechung des BAG grundsätzlich davon auszugehen, dass ihr künftiges Verhalten schon durch die Androhung von Folgen für den Bestand des Arbeitsverhältnisses positiv beeinflusst werden kann. Die ordentliche wie die außerordentliche Kündigung wegen einer Vertragspflichtverletzung setzen deshalb regelmäßig eine Abmahnung voraus. Sie dient der Objektivierung der negativen Prognose.
72 Gerade angesichts der Ankündigung der Frau D in der E-Mail vom 10. August 2020, dass die Beklagte eine weitere Aufenthaltsbescheinigung auf dem Postweg erhalte, war auch eine (fortgesetzte) Verletzung der Nachweispflicht prognostisch nicht mehr zu erwarten.
73 Jedenfalls ergibt der Sachverhalt keinerlei Anhaltspunkt, weshalb nur die fristlose Kündigung ein etwaiges Fehlverhalten der Klägerin angemessen sanktionieren kann (und nicht eine Abmahnung oder eine fristgemäße Kündigung).
III.
74 Die Kostenentscheidung folgt § 64 Abs.6 ArbGG in Verbindung mit § 97 ZPO. Die Beklag- te hat die Kosten des erfolglosen Rechtsmittels zu tragen.
75 Die Zulassung der Revision gemäß § 72 Abs. 2 ArbGG kam nicht in Betracht, da die gesetzlichen Voraussetzungen nicht vorgelegen haben.
Hinweis für die Praxis
Fachanwalt für Arbeitsrecht Andreas Martin -Berlin
Das Urteil ist typisch für die Fälle, bei denen der Arbeitgeber die Voraussetzungen einer außerordentlichen, fristlosen Kündigung völlig falsch zu seinen Gunsten einschätzt. Der Arbeitgeber war hier weit davon entfernt außerordentlich das Arbeitsverhältnis hier kündigen zu dürfen.
Anscheinend schien es auch so zu sein, dass er über die Krankheit/den Aufenthalt im Krankenhaus informiert gewesen ist (strittig) und einfach versuchte das Arbeitsverhältnis durch Kündigung zu beenden. Dies ist nicht völlig untypisch.
Hätte die Arbeitnehmerin sich hier nicht mittels der Kündigungschutzklage gegen die Kündigung gewährt, wäre diese wirksam geworden. Dies wäre dann auf jeden Fall ein Problem und hätte zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses geführt. Manchmal sprechen auch Arbeitgeber unwirksame Kündigungen aus in der Hoffnung, dass man sich im Gütetermin schon mit dem Arbeitnehmer auf Zahlung einer Abfindung einigen werde. Ob es hier Vergleichsverhandlungen gegeben hat, ist wahrscheinlich, aber diese sind jedenfalls gescheitert, sonst hätte es kein Urteil gegeben.